Was ist es?

#NoEstimates

Unter dem Begriff No-Estimates (häufig in der Hashtag-Schreibweise #NoEstimates verwendet) wird eine Alternative zum herkömmlichen Schätzen gefasst.

Statt Anforderungen kleinteilig mit Schätzungen zu versehen, werden Voraussagen und Entscheidungen anhand datengetriebener Durchlaufzeiten getroffen.

Warum #NoEstimates?

Schätzungen werden klassisch verwendet, um die Lieferfähigkeit und die Kosten von Anforderungen in der Zukunft planen zu können. Schätzungen ermöglichen damit, Entscheidungen zu treffen, in welchem Umfang Anforderungen umgesetzt werden sollen. Organisationen und Auftraggeber fordern Schätzungen, um ihr Bedürfnis nach Sicherheit und Planbarkeit zu befriedigen. Aber sie stellen im Lean-Sinne eine Form von “Verschwendung” dar, da sie keinen unmittelbaren Kundennutzen liefern. Schätzungen werden häufig für eine Vielzahl von Anforderungen erstellt, die niemals zur Umsetzung kommen.

Herkömmliche Schätzungen sind aufwendig zu erstellen und beinhalten Ungewissheit und Ungenauigkeit. Die wirkliche Umsetzungszeit und die Kosten einer Anforderung bestehen im Wesentlichen aus drei Komponenten (frei nach [Rainsberger2013]):

Kosten = Komplexität der Anforderung + vorhandene technische Schulden +  Variabilitäten

Beim herkömmlichen Schätzen wird vor allem die Komplexität der neuen Anforderung in einem konkreten oder abstrakten Schätzmaß bewertet. Technische Schulden, die die Umsetzung erschweren, fließen nicht ausreichend in die Schätzungen ein. Die Komplexität des bestehenden Codes wird unterschätzt und offenbart sich erst in dem Moment, in dem mit der Umsetzung begonnen wird. Weitere Variabilitäten wie Abwesenheiten durch Krankheit, technische Probleme im Umfeld und nicht vorhersehbare Verzögerungen durch Warten auf Grund von Abhängigkeiten sind ebenfalls schwer vorhersehbar und können deshalb nur schlecht abgeschätzt werden.
In der Praxis hat sich gezeigt, dass technische Schulden und unplanbare Variabilitäten die eigentlichen Kostentreiber bei der Umsetzung von Anforderungen sind und gegenüber der geschätzten Komplexität der Anforderung dominieren. Das klassische Schätzen der Komplexität liefert also nur einen geringen Mehrwert und hilft nicht ausreichend, das Sicherheitsbedürfnis von Organisationen zu befriedigen. Aus diesem Grund hat die #NoEstimates-Bewegung einen alternativen Ansatz für Planbarkeit und Entscheidungsfindung gesucht.

Wie #NoEstimates?

Der Kern von #NoEstimates ist, dass Planbarkeit und Entscheidungsfindung über statistische Analyse von Anforderungs-Durchlaufzeiten unterstützt wird.

Voraussetzung ist, dass die Anforderungen grob betrachtet in einer ungefähr gleichen Größe vorliegen. In Scrum kann man beispielsweise definieren, dass die Umsetzungszeit einer Story eine halbe Sprintlänge nicht übersteigen soll. Refinement-Meetings können dann primär dafür verwendet werden, Anforderungen inhaltlich zu klären. Zusätzlich wird geprüft, ob die Umfänge der Stories in einem vergleichbaren Bereich liegen. Sind Anforderungen deutlich größer, so müssen sie in ausreichend kleine Teile gesplittet werden.Eine genauere Einschätzung der Umsetzungszeit oder die Zuordnung von Komplexitätsgrößen zu Anforderungen wird aber nicht benötigt.

Die Durchlaufzeiten dieser kleinteiligen Anforderungen werden für wenige Iterationen gemessen. Der Mittelwert der Umsetzungsmenge wird dann verwendet, um Voraussagen über die Liefermenge in der Zukunft zu treffen. Wurden beispielsweise in den letzten Iterationen im Mittel 6 Anforderungen pro Iteration umgesetzt, so wird dieser Wert für die Prognose der kommenden Iterationen verwendet. Wir erwarten im Mittel für die kommenden Iterationen, dass 6 Anforderungen umgesetzt werden. Dass die Anforderungen leicht abweichende Größen haben, ist statistisch betrachtet dabei nicht relevant. Erfahrungsberichte zeigen, dass die Prognose-Genauigkeit dieser einfacheren Methode mit der Vorhersagefähigkeit genauerer Schätzverfahren übereinstimmt oder diese sogar übertrifft [Little2016] [Popova2016].
 

In der vergleichenden Analyse eines Projektes (siehe [Novatec2020]) kann man in dem normalisierten Graphen erkennen, dass die Anzahl der Story-Points stark mit der Anzahl umgesetzter Stories korreliert. Voraussagen und Entscheidungen zum Umfang der zukünftig gelieferten Anforderungen hätte man alleine anhand gemessener Durchsatz-Metriken der Vergangenheit treffen können. Der zusätzlich investierte Aufwand, der in die Schätzung der Story-Points gesteckt wurde, liefert dafür keine weiteren Erkenntnisse und wäre vielleicht besser in Entwicklungszeit investiert worden.

Die volle Wirkung entfaltet der No-Estimates-Ansatz, wenn man in der Entwicklung nach kurzer Zeit Erfahrungswerte zum Story-Durchsatz gesammelt hat. Startet man mit einem neuen Produkt oder beginnt ein neues Projekt mit einem neuen Team, so liegen diese Werte aber noch nicht vor. Um auch hier eine Vorhersage über Kosten und Umfang zu treffen, muss man auf klassische Methoden der Schätzung zurückgreifen.

Eine weitere Herausforderung soll nicht unerwähnt bleiben: Während klassisches Schätzen ein tieferes Ausleuchten der Anforderungen erzwingt, setzt No-Estimates auf ein deutlich gröberes Analysieren von Anforderungsgrößen. Teams müssen dann von sich aus eine Motivation und Disziplin entwickeln, Anforderungen in der Tiefe zu durchdringen und Verständnislücken zu identifizieren.

Literaturtipps und Organisation

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Artikelverweise

„#noestimates – Interview mit Woody Zuill und Arlo Belshee“ S/2018

Referenzen

[Duarte2016] Vasco Duarte: NoEstimates: How To Measure Project Progress Without Estimating

[Little2016] Todd Little, 2016, To Estimate or #NoEstimates, that is the Question.

[Popova2016] Albina Popova, 2016: Putting #noestimates in action.  

[Novatec2020] #NoEstimates - Nie wieder schätzen?

[Rainsberger2013] Fundamental Theorem of Agile Software Development.

Hier ist unser Kollege Andreas zu sehen.

Über den Autor

Andreas Havenstein

Andreas Havenstein ist Trainer, Architekt und Softwareentwickler bei der it-agile GmbH in Hamburg. Seit vielen Jahren begeistert er sich für agile Methoden, testgetriebene Entwicklung und modulare, flexible Architekturen. Er hat eine Cloud-Migration begleitet und beobachtet gespannt, wie sich die Welt in Richtung Serverless bewegt.

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