Verletzlichkeit zeigen zu dürfen ist die Voraussetzung dafür, dass Aufgaben nicht nur abgearbeitet werden, sondern dass Lösungen vom Kundennutzen her ersonnen werden können. Zu weit hergeholt? Nein, denn dazu gehört beispielsweise, im Plenum zugeben zu können, eine Aufgabe nicht verstanden zu haben und (möglicherweise erneut) um Klärung zu bitten. In einer vertrauensvollen Atmosphäre ist dies ohne Gesichtsverlust möglich und führt auf lange Sicht zu besseren Ergebnissen und effektiveren Prozessen.
Verletzlichkeit ist eng verbunden mit Scham („Ich bin zu dumm/nicht gut genug”) und Scham ist der primäre Grund für die Ablehnung hocheffektiver agiler Praktiken wie Pair-Programming und Co-Location.
Studien von Brené Brown belegen, dass Menschen zwei unterschiedliche Strategien verfolgen, mit Verletzlichkeit umzugehen. Die einen behalten unangenehme, schamvolle Erlebnisse für sich, die anderen öffnen sich gegenüber vertrauensvollen Personen und/oder sind im Stande Selbstmitgefühl zu praktizieren. Die erste Strategie ist durch ein Selbstbild persönlicher Unzulänglichkeit geprägt und verfolgt eine Taktik des Ausmerzens oder Ignorierens der Unzulänglichkeit. Dies begünstigt aber auf Dauer Isolation und Depression.
Die zweite Strategie ist eher durch ein Selbstbild der Unvollkommenheit geprägt („Ich bin genug und es ist ok, dass ich Schwächen habe”) und verfolgt das Einladen von Mitgefühl, was zu Vertrauen und Verbundenheit führt. Sie erfordert Mut. (Brown, Brené. The gifts of imperfection. Hazelden Publishing, 2010.)
Vertrauen beschreibt den schmalen Grad zwischen den eigenen Hoffnungen und Ängsten.
Wer Vertrauen schenkt muss sicher gehen können, nicht enttäuscht zu werden. Wer Vertrauen geschenkt bekommt, muss sicher gehen können, die Kompetenzen zu haben oder zu erlangen, äußeren Erwartungen gerecht werden zu können. Vertrauen geschenkt zu bekommen gilt als eine der effektivsten Triebfedern persönlichen Wachstums.
Vertrauen fängt bei einem selbst an. Es ist die Arbeit an der eigenen Glaubwürdigkeit, die sich für andere am Charakter (Integrität und klare Absichten) und an den Kompetenzen (Fähigkeiten und Track Record) abliest.
Vertrauen mit anderen führt zu Verbundenheit, Vertrauen im Team führt zu Alignment, Vertrauen im Markt führt zu Reputation, Vertrauen in der Gesellschaft führt zu gesellschaftlicher Relevanz. Dies sind die fünf Wellen der Glaubwürdigkeit nach Stephen M.R. Covey (Covey, Stephen R., and Rebecca R. Merrill. The speed of trust: The one thing that changes everything. Simon and Schuster, 2006.)
Verantwortung übernehmen ist befähigte (Kompetenz), absichtsvolle (Intention), freiwillige (Autonomie) und von der Sache überzeugte (Purpose) Eigeninitiative. Fehlende Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen ist eine der größten Herausforderungen von selbstorganisierten Teams und Organisationen. Sie manifestiert sich in langen Durchlaufzeiten, unklaren Verantwortlichkeiten in den Rollen, inkonsistenten Prozessen, Ping-Pong-artig hin und her springenden Aufgaben und beschränkten Zugangsberechtigungen. Die Problematik verstärkt sich bei Komponenten-Teams und bei hoher Abhängigkeit von Teams untereinander. Häufig wird Verantwortung mit Verpflichtung verwechselt. Wer sich verpflichtet fühlt ist jedoch nicht frei in der Wahl seiner Optionen. Er handelt auch nicht freiwillig. Verpflichtung ist die reaktive Haltung gegenüber den Erwartungen anderer (vgl. Christopher Avery, The Responsibility Process).
Der Weg zur Übernahme von echter, nämlich gefühlter Verantwortung erfolgt über Klarheit und Kompetenz. Mitarbeiter haben Klarheit über die Absichten ihrer Mission und sind mit ausreichend Kompetenz ausgestattet, die Mission zum Erfolg zu führen (Marquet, L. David. Turn the ship around!: A true story of building leaders by breaking the rules. Penguin UK, 2015).
Der Kreis schließt sich, wenn Verantwortung aufgrund von Unklarheit und Inkompetenz nicht übernommen werden kann: In psychologisch sicheren Umgebungen kann diese Unsicherheit offen ausgesprochen werden (s. Verletzlichkeit oben).