Von Henning Wolf, März 2016
Ein it-agileKollege hat bei einem unserer Kunden folgendes erlebt:
Der Kunde stellt ein Produkt her und hat seine Produktentwicklung in Teams organisiert, die jeweils für die Entwicklung bestimmter fachlicher Aspekte des Produktes zuständig sind. Alle Teams hatten damit zu kämpfen, dass es sehr viele Stakeholder gab mit sehr vielen (bestimmt guten) Ideen. Da waren die Fachabteilungen, das Marketing, der Kundenservice und auch noch die anderen Teams. Das führte zu sehr langen Listen von Wünschen, was die Teams erledigen sollten, vielen Umprioriserungen auf dieser Liste und vielen Nachfragen, wann denn mit bestimmten Features zu rechnen sei.
Du kannst dir vielleicht vorstellen, dass all diese Wunschlisten, Umpriorisierungen und Nachfragen weder das Team schneller noch die Stakeholder glücklicher gemacht haben.
Eines der Teams hat deshalb für sich beschlossen, dass es so nicht weitergehen könne. Sie haben im Entwicklungstakt von zwei Wochen ein offenes Priorisierungsmeeting anberaumt. Zu diesem Meeting waren alle Stakeholder und letztlich alle in der Firma herzlich eingeladen. Das Team hatte die Erfahrung gemacht, dass es sinnvollerweise nicht an mehr als 2-3 neuen Features gleichzeitig arbeiten kann und noch nie mehr als 6 neue Features in zwei Wochen fertiggestellt hat. Beim ersten Priorisierungsmeeting war der Entwicklerraum voll mit Stakeholdern und das Team erklärte seine neuen Spielregeln: Keine Liste mehr, hier und jetzt wird über die zwei Sachen entschieden, die wir definitiv als erstes bearbeiten und mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit in zwei Wochen fertig haben. Zusätzlich nehmen wir gerne noch 3 weitere Themen mit und beginnen mit denen, wenn es geht. Wenn nicht, bringen wir die Themen ins nächste offene Priorisierungsmeeting wieder mit und müssen gemeinsam neu entscheiden.
Was sich im Folgenden entspann, war eine sehr nützliche Diskussion der Stakeholder untereinander, welches Feature für das Unternehmen am wichtigsten sei. Das war für die ersten 2 bis 3 Features meist einfach zu entscheiden. Und insbesondere war es für die Stakeholder einfacher zu entscheiden als für das Entwicklungsteam.
Diese Art der Priorisierung war für die Stakeholder eine Umstellung, aber insgesamt ist sie sehr erfolgreich. Ich habe letzte Woche mal nachgefragt, das Team macht es heute noch genauso. Es ist eines der erfolgreichsten und beliebtesten Teams, weil es sehr zuverlässig liefert. Dank der offenen Priorisierungsmeetings sogar zuverlässig das wichtigste, was gerade ansteht.
Mein Kommentar: So ist es clever! Die Stakeholder erkennen so, dass es nicht primär am Entwicklungsteam liegt, wenn sie etwas nicht (jetzt) bekommen, sondern an den anderen Stakeholdern und unternehmensweiten Priorisierungen. Zudem müssen sie sich selbst darum kümmern, dass ihre für sie und das Unternehmen wichtigen Themen erledigt werden. Das hält sie vermutlich auch davon ab, sich parallel noch mehr Dinge auszudenken. Oder die neuen Ideen dann auch schon selbst als ihre neuen allerwichtigsten Themen mitzubringen.
Ich weiß aber auch, dass du jetzt vielleicht denkst, dass das so bei dir und eurer Konstellation leider nicht möglich ist. Das glaube ich auch. Gleichzeitig solltest du aber die Anregung mitnehmen, darüber nachzudenken, wie die Stakeholder untereinander ihre Prioritäten im Sinne des Gesamtinteresses selber abgleichen können. Zudem würde ich dir empfehlen, nicht der Verwalter von Stakeholderideen zu werden. Das sollten und können sie gut selber erledigen.