Autor
Dr. Ralf Lethmate
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Das agile Mindset beschreibt eine durch die agilen Werte und Prinzipien geprägte Grundhaltung, die die Wirkung agiler Methoden verstärkt. In diesem Artikel erklären wir, welche Werte und Prinzipien dem agilen Mindset zugrunde liegen und wie Sie ein agiles Mindset entwickeln können.
Der primäre Zweck agiler Managementmethoden wie Scrum besteht darin, den agilen Kernzyklus zwischen Kund:innen und Team am Laufen zu halten. Agiler Kernzyklus bedeutet, dass das Team kontinuierlich daran arbeitet, Probleme oder Bedürfnisse der Kund:innen in Lösungen umzusetzen. Dies leistet es, indem es aktiv Anwender:innenerfahrungen in Form von Kund:innen-Feedback und Nutzungsbeobachtungen abfragt (inspect). Die Schlussfolgerungen aus diesen empirischen Erkenntnissen werden dann in die nächste Lösung eingebaut (adapt). Da der Arbeitsmodus für alle Beteiligten transparent ist, spricht man von empirischem Management, der auf Empirie und Transparenz basiert.
Scrum stellt insofern den organisatorischen Rahmen für den agilen Kernzyklus zur Verfügung, der aus Rollen, Events und Artefakten besteht. Die ersten Schritte in Richtung Agilität sind daher schnell gemacht: Rollen besetzen, neue Meeting-Strukturen (Events) aufsetzen und Teilprodukte wie (Sprint-)Backlogs und Entwicklungsinkremente definieren (Artefakte). Dies ist die Kopfebene (vgl. Grafik).
Scrum ist jedoch keine entseelte Checkliste. Man ahnt bereits, dass die Methode ins Leere läuft, wenn der Prozess beispielsweise nicht ausreichend transparent ist. Transparenz ist nichts, was sich per Rezept verordnen lässt. Daher wird das empirische Management mit agilen Leitsätzen, Werten und Prinzipien flankiert. Sie sollen die Wirkung des empirischen Managements verstärken und beschreiben die Herzebene (vgl. Grafik)
Umgekehrt hilft das empirische Management, die agilen Werte kontinuierlich zu fördern, so dass auf beiden Ebenen, Kopf und Herz, Lernen stattfindet.
Um ein anderes Bild zu bemühen: Wer seinem Unternehmen mit Scrum ein Update verpassen will, weil es alle anderen auch so machen, denkt zu kurz. Scrum entspricht eher einem neuen Betriebssystem.
Wer mit Agilität das erste Mal in Kontakt kommt, dem fallen vermutlich zunächst sichtbare Merkmale auf wie: bunte Klebezettel (Werkzeug) und Menschen, die ihre Meetings im Stehen abhalten (agile Praktik). Diese Werkzeuge und Praktiken haben, neben den vielen weiteren, eine hohe Sichtbarkeit. Die agilen Rollen (Framework) gehören hingegen zu den weniger sichtbaren Merkmalen bis hin zu den Prinzipien und Werten, die für Außenstehende nur noch durch Gespräche festzustellen sind. Von den Werkzeugen, Rollen (OKR-Coaches, Scrum-Master) über die agilen Praktiken und Frameworks bis hin zu den Prinzipien und Werten nimmt also der Abstraktionsgrad zu.
Zum anderen nimmt in umgekehrter Richtung die Authentizität zu: die Werte und Prinzipien (Herz) entscheiden darüber, wie die Werkzeuge und Praktiken (Kopf) angewandt und gelebt werden.
Doch um welche Werte, Leitsätze und Prinzipien geht es?
Um es direkt zu Anfang zu sagen: es gibt nicht die agilen Werte. Tatsächlich wurden in den verschiedenen agilen Strömungen unterschiedliche formuliert. Aufgrund der weiten Verbreitung gehen wir hier auf die fünf Scrum Werte ein. Sie sind
Wie die Scrum-Werte verstanden werden sollten, zeigt folgendes generisches Beispiel eines Veränderungsvorhabens:
„Wir sind als Beteiligte des Veränderungsvorhabens mutig, weil wir Transparenz zulassen. Die Transparenz wird zu Erkenntnissen führen, die schmerzhaft und überraschend sein können, weswegen jeder für bevorstehende notwendige Veränderungen offen sein muss. Auf dem Weg der Veränderungen zeigen wir jenen Respekt, die eine andere Meinung haben als wir selbst und sind dankbar für alle, die mit Commitment vorangehen und uns dabei helfen, Fokus auf das Wesentliche zu behalten, damit alle am selben Strang ziehen.”
Das agile Manifest bildet die Grundlage dafür, wie Organisationen schwergewichtige, dokumentenlastige Entwicklungsprozesse in solche entwickeln können, die die Wertschöpfung maximieren.
Im Februar 2001 trafen sich 17 Vertreter der Softwerker-Szene. Sie vertraten verschiedene methodische Strömungen (XP, SCRUM, Crystal, FDD etc.) mit teils kontroversen Ansichten, aber sie hatten ein gemeinsames Anliegen: eine Alternative zu finden für Softwareentwicklungsprozesse, die bis dato durch aufwendige Dokumentationen sehr schwerfällig und wenig kundenzentriert waren. Dabei kamen sie auf eine gemeinsame Wertebasis, die im sogenannten Agilen Manifest festgeschrieben wurde.
Die vier Leitsätze bzw. Wertepaare aus dem agilen Manifest lauten:
Obwohl die Werte auf der rechten Seite wichtig sind, schätzen wir die Werte auf der linken Seite höher ein.
Die Leitsätze sind heute so zutreffend wie damals und haben auch außerhalb der Softwareentwicklung nachweisliche Gültigkeit und Prominenz erlangt.
Was unterscheidet agil von nicht-agil?
Im Folgenden erklären wir, dass ein dynamische Selbstbild Teil des agilen Mindsets ist und wie es zu nachhaltigem Lernen führt.
Der einmalige Scrum- oder Kanban-Roll-out wird nicht zu Agilität führen. Das würde vermutlich zu einem so-als-ob-Vehalten führen, nach dem Mitarbeiter:innen auf der Vorderbühne agile Praktiken umsetzen, aber auf der Hinterbühne doch alles beim Alten bliebe (s. Cargo Cult in unseren Literaturempfehlungen).
Das 12. Prinzip des agilen Manifests („Lernen“) die Hinterbühne in die Pflicht zu nehmen. Es besagt: „In regelmäßigen Abständen reflektiert das Team, wie es effektiver werden kann und passt sein Verhalten entsprechend an“. Es sind daher Reflexionsfragen gestattet wie die weiter unten in diesem Artikel. So findet Lernen auf beiden Ebenen, Kopf und Herz, statt.
Inspect & Adapt in kleinen Schritten angewandt, wird auf Dauer zu immer besseren Ergebnissen führen, auch wenn Misserfolge durch Irrtümer auftreten werden. Hierzu gehören auch Verhaltensirrtümer. Diese kleinschrittige Lernkurve wird „Kaizen“ bezeichnet: von „kai“(改), „Veränderung“, und „zen“ (善) „besser“. Es beschreibt also das Streben nach kontinuierlicher Verbesserung.
Das agile Mindset mit dem 12. Prinzip von Inspect & Adapt ist eng verknüpft mit dem Growth Mindset, wie es Carol Dweck in ihrem Buch „Mindset. The new psychology of success“ definiert.
Sie unterscheidet zwischen zwei Selbtsbildern, dem Fixed Mindset und dem Growth Mindset. Sie bestimmen, wie wir uns sehen, entwickeln und welche Ziele wir uns setzen – mit Auswirkung auf Organisationsebene.
Fixed Mindset:
„Meine Intelligenz, Talente und Kompetenzen sind beschränkt. Falls ich danach gefragt werden, verfolge ich zwei Strategien: Entweder stelle ich meine Kapazitäten unter Beweis oder ich gehe potentiell peinlichen Situationen aus dem Weg. Prüfungen sind ein Beweisantritt zur Wahrung meiner Persönlichkeit.“
In einem Fixed Mindset habe ich das Selbstbild, mich ständig beweisen zu müssen. Niederlagen werden als persönliche Unzulänglichkeit verstanden. Beispiele:
Growth Mindset:
„Talente, Intelligenz und Fähigkeiten sind nicht in Stein gemeißelt. Ich habe den Glauben, dass Gewohnheiten, Lernstrategien, Übung und Hilfe durch andere darüber entscheiden, ob und wie schnell ich mich verbessere. Ich habe den Glauben, dass sich Menschen zwar in ihren initialen Talenten, Interessen und in ihrem initialen Temperament und ihrer Haltung unterscheiden, jedoch durch Feedback und Erfahrung wachsen werden.“
Im Unterschied zum Fixed Mindset befinde ich mich mit Growth Mindset auf einer Lernreise. Ich entwickle mich stetig weiter, statt beweisen zu müssen, dass ich bereits der oder die Beste bin. Niederlagen werden nicht als Unzulänglichkeit, sondern als Unvollkommenheit verstanden. Beispiele:
Es existiert hier kein „Entweder-oder“. Wir können, je nach Situation, die eine oder andere Haltung einnehmen.
Wie führt man ein agiles Mindset im Unternehmen ein?
Die Vorteile eines agilen Mindsets wirken sich auf die gesamte Organisation aus. Eine Studie aus 2020 mit 208 mittelständische Unternehmen und Konzernen stellte fest, dass 32 % des Top-Managements agile Arbeitsweisen nicht vorleben. Dagegen scheint es einen deutlichen Kulturwandel im mittleren Management zu geben: Über 80 % der Studienteilnehmer:innen des mittleren Managements lebe agile Arbeitsweisen vor.
Dies ist insofern schade, als dass die Wirkung agiler Arbeitsweisen sehr stark von der Unterstützung und dem Verständnis des oberen Managements abhängt.
Es stellt sich entsprechend der Studie also die berechtigte Frage: „Wie sag ich’s meinem Chef bzw. meiner Chefin?”
Man ahnt auch hier: ein agiles Mindset lässt sich nicht einmalig ausrollen oder einfordern. Schon gar nicht nach oben. Das gleicht dem Versuch, einen Faden zu schieben. Was können Mitarbeiter:innen und Führungskräfte also tun, wenn Mitarbeiter:innen oder Chef:innen auf alten Gewohnheiten verharren?
Der Weg zu neuen Geisteshaltungen der Mitarbeiter:innen besteht aus Vorleben und Nachahmen. Die Veränderung fängt also bei uns selbst an, damit wir Mitmenschen zu Ähnlichem inspirieren können.
Führungskräfte haben die Aufgabe für eine Arbeitsumgebung zu sorgen, in der ein Growth Mindset gefördert wird und die psychologisch sicher ist, so dass Mitarbeiter:innen sich verletzlich zeigen können. Sei es, weil sie sich trauen, einen Fehler zuzugeben, wiederholt um Erklärung eines Sachverhalts zu fragen oder „Elefanten im Raum“ ansprechen zu können.
Wie das gelingt? Indem Führungskräfte selbst ein Growth Mindset vorleben und sich verletzlich zeigen, also offen über eigene Fehlschläge und Irrwege sprechen. Verletzlichkeit zeigen führt zu Verbundenheit und diese vermittelt ein Gefühl der psychologischen Sicherheit.
Für den Weg zur Führungskraft empfiehlt sich der Weg über den Agile Coach. Diese allparteiliche Rolle erlaubt es, brisante Themen zunächst vertraulich zu besprechen und Lösungswege zu finden; z.B. indem das Feedback in anonymisierter Form „nach oben“ gelangt.
Wenn Unternehmen Schwierigkeiten mit Innovation und Marktnähe haben, dann liegt das an ihrem Erbe. Es ist der Spiegel ihrer Netzwerke, ihre Prozesse, Strukturen, Systeme und Tools, mit denen sie seit vielen Jahren arbeiten.
Auch wenn der Wunsch nach Veränderung besteht, ist die bisherige Reise mit Wertschätzung zu bedenken, denn schließlich konnte man sich bis hierher so erfolgreich am Markt behaupten. Glückwunsch dazu!
Die Erkenntnis, dass es wie bisher nicht weitergehen kann, ist bereits der erste Erfolg. Glückwunsch auch dazu!
Ja, Veränderung erscheint oft als Mammutaufgabe. Schließlich ist es in der Regel so, dass man das Alte nicht ohne Weiteres gegen etwas Neues eintauschen kann und das kann frustrierend sein. Damit sind Sie nicht allein!
Eine innere Haltung wie die eines agilen Mindsets hilft, Strukturen nicht als gegeben, sondern als kleinschrittig anpassbar zu sehen und kritische Stimmen willkommen zu heißen. Denn so hört man hinter den entrüsteten Stimmen, warum Dinge nicht oder immer noch nicht so laufen wie gedacht, wertvolles Feedback heraus.
Einen sehr wertvollen Artikel dazu hat Dale H. Emery verfasst.
Mit einem Fixed Mindset erkennt man zwar das Problem, argumentiert aber so: „Wir müssen besser kommunizieren und uns an unsere Prozesse und Vereinbarungen halten”.
Mit einem agilen Mindset habe ich hingegen die innere Haltung, dass Prozesse gechallenged und neue Dinge in kleinen Bereichen ausprobiert werden dürfen.
Ein agiles Mindset hat auch Auswirkungen darauf, wie Vorgesetzte über Erfolg und Misserfolg sprechen. Es geht nicht mehr darum, vorhandener Fähigkeiten zu bestätigen:
Fixed Mindset: „Wow, Euer Erfolg zeigt, dass Ihr gut seid!“
Es geht vielmehr darum, Respekt für eine gute Arbeitsethik zu zeigen:
Growth Mindset: „Wow, Ihr müsst für diesen Erfolg hart gearbeitet haben!“
Es geht also um die inkrementelle Lernentwicklung: nach der Prüfung geht der Lernzyklus weiter. So sind nach dem agilen Mindset Zertifikate und Titel keine Eintrittskarten für die nächste Sprosse der Karriereleiter, sondern Ausdruck dieser nachhaltigen Arbeitsethik.
Umgekehrt geht es bei Misserfolgen darum, dass Mitarbeiter sich auch angesichts wachsender Verantwortung zutrauen, Führung zu übernehmen, statt befürchten zu müssen, irgendwann den höher werdenden Erwartungen nicht mehr gerecht zu werden:
Fixed Mindset: „Er/sie ist wohl nicht der/die Richtige für diese Aufgabe.“
Growth Mindset: „Schade, noch nicht geschafft. Vielleicht klappt’s beim nächsten Mal.“
Wie entwickeln Sie ein agiles Mindset?
Die Entwicklung eines Mindsets ist Selbstführung und kann in 4 Schritten erfolgen:
Das agile Mindset beschreibt eine auf Werten basierende Grundhaltung, die von einem lernenden Selbstbild geprägt ist. Im Kern des agilen Mindsets stehen die 4 Leitsätze des agilen Manifests. Je nach agiler Methodologie (Scrum, XP, FDD etc.) zeigen sich unterschiedliche Schwerpunkte, mit welchen Werten und Prinzipien ein agiles Mindset gelebt wird. Das agiles Mindset schließt das Growth Mindset mit ein, das davon ausgeht, dass sich jeder Mensch entwickeln kann. Die Ausprägung eines Mindsets erfolgt durch Vormachen und Nachahmen. Deshalb ist die Entwicklung davon die Aufgabe der Selbstführung.
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Weiterhin:
Über den Autor
Ralf Lethmate wurde 1972 geboren, ist promovierter Physiker und hat einen Master of Business Administration (MBA). Als ausgebildeter Change Manager schließt er mit Herzblut zwischenmenschliche und produktbezogene Feedback-Schleifen.
Veröffentlichungen (u. a.):
Übersetzungen:
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